Die Geschichte vom Adler, der glaubte ein Huhn zu sein

 

Der kleine Adler fällt aus dem Nest. Der Bauer findet ihn und bringt ihn in seinem Hühnerhof unter. Wieder sind die Hühner dem jungen Adler gute Gefährten und willige Lehrmeister. Bald kratzt er in der Ecke nach Würmern und gackert, wie das ein ordentliches Huhn zu tun hat. Hin und wieder benutzte er seine Flügel, um schneller als die anderen ein fettes Insekt zu ergattern, aber meistens stolzierte er herum, genau wie Hähne es tun.

Die Jahre vergingen, und allmählich wurde der Adler im Hühnerhof alt. Eines Tages glitt ein herrlicher Vogel über den wolkenlosen Himmel. Direkt über dem Hühnerhof schwebte er mit weit ausgebreiteten Flügeln dahin, fast schwerelos und sehr majestätisch.

Ängstlich blickte der alte Adler zum Himmel empor. „Wer ist das?“ fragte er seine Gefährten.

„Das ist ein Adler. Man sagt, er sei der König der Vögel“, antwortete ein Huhn. „Aber lass mal. Du und ich, wir sind anders.“

Und so vergaß der alte Adler den herrlichen Schatten am wolkenlosen Himmel und starb in dem Glauben, ein Huhn zu sein.

Es gibt eine zweite Version von der Geschichte.

Einst fiel ein junger Adler aus dem Nest. Ein Bauer, der zufällig vorüberkam, nahm ihn mit nach Hause und brachte ihn in seinem Hühnerhof unter. Dort wuchs der junge Adler inmitten der Hühner auf.

 Der Adler war noch jung und anpassungsfähig, lernte er schnell, sich wie ein Huhn zu benehmen, und schon bald unterschied er sich nur noch äußerlich von den Hühnern. Wie die Hühner scharrte er im Boden nach Würmern, pickte Körner aus dem Napf und versuchte so zu gackern, wie Hühner es eben tun.

Im Laufe der Zeit entwickelte er darin eine gewisse Geschicklichkeit und allmählich verkümmerte dieser seltsame Drang, sich in die Luft erheben zu wollen, völlig.

Nur hin und wieder, wenn ein Schatten über den Hühnerhof glitt und alle seine Gefährten hysterisch gackernd unter Hecken und Bäumen Schutz suchten, blickte er als einziger zu dem Schatten hinauf und eine eigenartige Sehnsucht befiel ihn.

Aber weil er sich diese Gefühle nicht erklären konnte und die anderen Hühner ihn so merkwürdig ansahen, wenn er mit ihnen darüber reden wollte, verdrängte er seine Sehnsucht. Und als das nächste Mal der Schatten über den Hof flog, zog er wie die anderen den Kopf ein und flüchtete mit ihnen in den Schutz der Hecke.

Jahre später kam ein Wanderer am Hühnerhof vorbei. Als der den Adler im Hühnerhof sah, fragte er den Bauern: „Wie kommt es, dass du einen Adler im Hühnerhof hältst? Weißt du nicht, dass er für ein ganz anderes Leben bestimmt ist?“

Der Bauer erzählte ihm, wie er den jungen Adler gefunden hatte und wie er, weil er sich keinen anderen Rat gewusst hatte, ihn eben zu den Hühnern gesetzt hatte. „Und wie du sehen kannst, fühlt er sich hier unter den Hühnern wohl. Er ist jetzt einer von ihnen.“

Der Wanderer schüttelte den Kopf und fragte den Bauern, ob er den Adler zu einer Wanderung mitnehmen könne, er werde ihn später wieder zurückbringen. Der Bauer hatte nichts dagegen, und so holte der Wanderer den Adler aus dem Gehege, setzte ihn auf seine Hand und verließ den Hof.

Langsam wanderte er mit dem Adler den Bergen entgegen. Der Adler saß mit angelegten Flügeln und eingezogenem Kopf auf seiner Hand und nur gelegentlich riskierte er einen ängstlichen Blick in die fremde Umgebung. Der Wanderer stieg mit ihm auf einen Hügel, von dem man einen herrlichen Blick über die Landschaft hatte, aber der Adler sah nur wenig davon.

Nach einer Weile brachte der Wanderer den Adler zurück in den Hühnerhof. Erleichtert flatterte der Adler auf den Boden zurück und begann eifrig nach Würmern zu scharren, froh wieder bei seinen Gefährten zu sein.

Eine Woche später kehrte der Wanderer zurück, setzte den Adler wieder auf eine Hand und wanderte mit ihm wieder den fernen Bergen entgegen. Dieses Mal zeigte der Adler nicht mehr soviel Angst, sondern sah sich neugierig um. Als sie auf der Spitze eines hohen Berges angelangt waren, hob der Wanderer den Adler auf seiner Hand hoch in die Luft. Der Adler flatterte mit seinen Schwingen um das Gleichgewicht zu halten und dabei erhob er sich zu seinem eigenen Erstaunen ein wenig in die Luft.

Obwohl es ein erhebendes Gefühl war, frei zu schweben, erschrak er und klammerte sich schnell wieder an der Hand fest. Der Wanderer lächelte, stieg mit ihm wieder den Berg hinunter und lieferte ihn auf dem Hühnerhof ab.

Der Adler benahm sich nach wie vor wie ein Huhn, aber gleichzeitig begann er von nun an sehnsüchtig auf den Wanderer zu warten, um mit ihm wieder hinauf in die Berge zu gehen. Als der Wanderer das nächste Mal kam, flatterte er ganz von selbst auf dessen Hand, reckte stolz den Kopf und schien es kaum abwarten zu können, aus dem Gehege herauszukommen.

Wieder stiegen sie auf die hohe Bergspitze hinauf. Es war ein wunderschöner Sommertag; ein laues Lüftchen wehte, am Himmel zogen weiße Wolken vorüber, und tief unter ihnen breitete sich das herrliche, weite Land mit grünen Wäldern und fruchtbaren Feldern aus.

Der Wanderer hob seinen Arm und schwenkte ihn vorsichtig durch die Luft. Zuerst krallte der Adler sich ängstlich fest und flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln; ohne es zu wollen, erhob er sich dabei erst ein wenig, dann immer ein bisschen höher in die Luft.

Wie von selbst breiteten sich seine Schwingen aus, und der Wind trug ihn immer höher in den Himmel hinauf. Plötzlich stieß er einen lauten, triumphierenden Schrei aus und begann erst enge und dann immer weitere Kreise über das unter ihm liegende Land zu ziehen. Fast schwerelos segelte er durch den endlos weiten Himmel. Ein König in seinem eigenen Reich.

Was will uns diese Metapher damit sagen?

Oft glauben wir zu wissen, dass wir das sind was wir im jetzigen Moment leben. Unsere Denkweise und Wahrnehmung ist nur das, was wir gelernt haben und so in uns gefestigt haben, dass das zu unserer wahrheit geworden ist.

Was wäre, wenn du mehr bist als nur ein Huhn der denkt, dass er nicht fliegen kann?

Probiere es aus, lerne neue Fähigkeiten kennen. Sei dein eigener Forscher und lerne dich besser kennen. Zum Hühnerstall, kannst du immer wieder zurück kehren ;-))

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